Vertiefung

LebenimBauwagen.DieEastSideWagenburg

„Wir nutzten die Mauer als Schutz.“

Rab Lewin über das Leben in der Wagenburg, 2021

Nach der Öffnung der Berliner Mauer lag der frühere Grenzstreifen an der East Side Gallery brach. Ab 1991 ließen sich hier Menschen in teilweise stillgelegten Fahrzeugen und umgebauten Bauwagen nieder. Zunächst zog eine West-Berliner Wagenburg hierher, die ihren Standort in Berlin-Mitte räumen musste. Nahe der Oberbaumbrücke ließ sich eine Gruppe nieder, die Hühner, Ziegen und andere Tiere mitbrachte. Zwischen diesen beiden Gruppierungen versammelten sich weitere Menschen aus Berlin, aber auch Zugezogene aus Deutschland und anderen Ländern, jugendliche Ausreißer sowie Kreative. Die Mauer bot einen guten Schutz gegen „Außen“, weder Schaulustige noch die Polizei konnte einfach hineinschauen. Doch war die 1,3 km lange Mauer für die Bewohnerinnen und Bewohner in ihrem Alltag auch ein Hindernis. Um die langen Wege zu vermeiden, schufen sie einen zusätzlichen Durchgang. Das Loch in der Mauer ist heute noch zu sehen und die einzige erhaltene Spur der Wagenburg.

Leben auf der Wagenburg. Im Hintergrund ist die Rückseite der East Side Gallery zu sehen
Leben auf der Wagenburg. Im Hintergrund ist die Rückseite der East Side Gallery zu sehen

„Die East Side war der Ort, wo die Ausgestoßenen lebten.”

Rab Lewin über die Wagenburg an der East Side Gallery, 2021

Blick durch das „Loch“ in der Mauer auf die Wagenburg, zwischen 1991 und 1996
Blick durch das „Loch“ in der Mauer auf die Wagenburg, zwischen 1991 und 1996

In der so genannte East Side Wagenburg lebten mehr als 250 Menschen. Aufgrund der Größe ließ sich das Zusammenleben nicht mehr in den eigentlich üblichen Plenen gemeinschaftlich organisieren. Die „East Side“ wurde zum sozial schwächsten Wagenplatz Berlins. Es kam zu Konflikten. Erst ab 1994 gab es einige Toilettenhäuser, ein Wasser- und Stromanschluss existierte nicht. Die Presse berichtete mehrheitlich abwertend über den Zustand des Geländes, über Kriminalität und Drogenhandel. Als die Zeitungen 1996 über einen Totschlag auf dem Gelände und Tuberkuloseverdacht schrieben, nahm das mediale und politische Drängen auf eine Räumung zu. Am 17. Juli 1996 ließ der Berliner Senator für Inneres die Bewohnerinnen und Bewohner der „East Side“ räumen.

"Die Menschen, die auf der Wagenburg lebten, waren eigentlich wie auf einer Insel."

Ralph Marsault über das Leben hinter der Mauer, 2022

Zwischen Spree und Mauer war zwischen 1991-1996 Platz, um vielen verschiedenen Menschen eine Unterkunft zu bieten
Zwischen Spree und Mauer war zwischen 1991-1996 Platz, um vielen verschiedenen Menschen eine Unterkunft zu bieten

Was sind Wagenplätze und -burgen?

„Es ist eine andere Sache, wie in einer Hauskommune, Hausgemeinschaft, in WGs zu wohnen. Das ist eine andere Kategorie einfach.“

Gerold Kohl lebt seit über 30 Jahren in Wagenburgen, 2021

Die Menschen leben aus sehr unterschiedlichen Gründen in Wagenburgen. Einige Wagenburgen möchten Schutzräume für gesellschaftlich ausgeschlossene Personen bieten, worauf auch die Bezeichnung als „Wagenburg“ hinweist. Sie bieten ein Zuhause für Menschen, die beispielsweise von Rassismus, Sexismus, Armut, Obdachlosigkeit und familiären Problemen betroffen sind. In anderen Wagenburgen wohnen Menschen, die sich als Aussteiger aus der Gesellschaft sehen oder die etwa an die demokratische Verfasstheit einer kleinen Gemeinschaft glauben. Sie suchen nach einem selbstbestimmten Leben abseits der Regeln des Wohnmarktes. Manche wünschen sich eine andere Form des Wohnens und sehen die Wagenburgen als Alternative zu einer Wohngemeinschaft. Schließlich gibt es auch den Wunsch, der Natur näher zu sein als in einem Haus. Wagenburgen zeichnet in der Regel aus, dass die Menschen sich in allen Lebenslagen unterstützen.

Die Wagenplätze und -burgen unterscheiden sich in ihren politischen Ansprüchen, im Grad ihrer Organisation und in den Einkommens- und Bildungsniveaus ihrer Mitglieder. Gemeinsam ist ihnen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner auf einem gemeinsamen Areal in zumeist stillgelegten Anhängern und Fahrzeugen leben. Das soziale Zusammenleben in Wagenburgen und auf Wagenplätzen ist von kollektiven Entscheidungen im Plenum z.B. über den Einzug neuer Mitbewohnerinnen und Mitbewohner geprägt. Die Wagenburgen macht aus, dass die Mitglieder solidarisch miteinander sind. Heute sind viele Wagenplätze an die städtische Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung angebunden.

„Der Sozialaspekt war ganz wichtig dabei. Dass wir immer gesagt haben: Hier muss niemand klauen. Es gibt für jeden etwas zu essen, es gibt immer einen Schlafplatz, das ist kein Thema.“

Gerold Kohl über die Gemeinschaft in Wagenburgen, 2021

Wagenburgen und die Berliner Mauer

Seit Beginn der 1980er Jahre entstanden in West-Berlin Wagenplätze, meist in Verbindung mit Hausbesetzungsprojekten. Einige Wagenplätze siedelten sich schon vor der Grenzöffnung nahe der Berliner Mauer an beispielsweise am Potsdamer Platz. Nach dem 9. November 1989 entstanden neue Wagenburgen im früheren Grenzstreifen, der zunächst brachlag. Viele Bewohnerinnen und Bewohner von Wagenburgen haben die Erfahrung gemacht, einen Platz verlassen zu müssen, wenn die freien Flächen an Investoren verkauft wurden. Auch heute kämpfen Wagenburgen für ihre Freiräume und verhandeln mit dem Land Berlin, den Bezirken und den Eigentümern der Flächen. In Berlin existieren derzeit mehr als 12 Wagenburgen.

Zeitzeugen erinnern sich

Entdeckung und Erfassung der Wagenburgen
Ralf Marsault

Ende der „East Side Wagenburg“
Rab Lewin

Runde Tische zu den Wagenburgen
Gerold Kohl

Wer ist Gerold Kohl?
Gerold Kohl

Wagenleben am Potsdamer Platz
Gerold Kohl

„Wagenburgen“ als parallele Realitäten und deutsches Phänomen
Ralf Marsault

Leben in verschiedenen Wagenburgen
Gerold Kohl

Mauerfall und Verdrängung aus der Innenstadt
Gerold Kohl

Wem gehört die Stadt?
Gerold Kohl

Bewohner der East Side Wagenburg: Unterschiede und Zusammenleben
Gerold Kohl

Wie Ralf Marsault die Wagenburg entdeckte
Ralf Marsault

Räumung der „East Side Wagenburg“
Gerold Kohl

Berliner Wagenburgen heute
Gerold Kohl

Leben und Alltag auf der „East Side Wagenburg“
Rab Lewin

„Durchreiche“ in der Berliner Mauer
Gerold Kohl

Besetzte Freiräume und Verdrängung
Gerold Kohl

Konflikte der Wagenburg: Bewohner und die städtische Öffentlichkeit
Rab Lewin

Devise: „Arthur und Anna haltens’ Maul“
Gerold Kohl

Wem gehört die Stadt?
Ralf Marsault

Wer ist Rab Lewin?
Rab Lewin

Probleme auf der „East Side Wagenburg“
Gerold Kohl

Die Wagenburg als Bedrohung für sich selbst
Ralf Marsault

Die Wagenburg Lohmühle existiert seit 1991 in Berlin-Treptow und stellt sich auf einer eigenen Webseite vor:

https://www.lohmuehle-berlin.de/blubb/wir-ueber-uns/

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