Vertiefung

KanndieMauerweg?

1990: Freiräume entstehen

Viel Platz und wenig Geld: Berlin war in den 1990er Jahren eine Stadt der Möglichkeiten, in der jedoch wenig Geld verdient wurde. In ganz Berlin und insbesondere im Ostteil der Stadt ließen sich freie Flächen finden. Die Berlinerinnen und Berliner nutzen diese Freiräume so lange bis Investoren die Grundstücke kauften, um sie zu bebauen, zu verkaufen oder zu vermieten. An der Mühlenstraße in Berlin-Friedrichshain geschah dies zunächst weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Das ehemalige Grenzgebiet war kein Teil des Friedrichshainer Kiezes.

„Die Idee war: Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Wir wollen damit nichts mehr zu tun haben, jetzt machen wir alles wieder neu. […] Heute würde man vielleicht anderweitig damit umgehen. Aber das ist auch ein Zeitzeuge für diese Momente.“

Heskel Nathaniel, CEO von Trockland, über die Stadtplanung in den 1990er Jahren, 2021.

Im April 1991 ist der Raum hinter der East Side Gallery noch weitestgehend leer und ungenutzt
Im April 1991 ist der Raum hinter der East Side Gallery noch weitestgehend leer und ungenutzt
1991 sind die neben der East Side Gallery liegenden Grundstücke am Stralauer Platz noch unbebaut
1991 sind die neben der East Side Gallery liegenden Grundstücke am Stralauer Platz noch unbebaut

Verkaufsabsichten und Proteste

„Die westdeutsche Idee hat sich ja komplett übergestülpt über diese Romantik der Lost Places.“

Carsten Joost über die Entwicklungen am Spreeufer, 2021

Erst als viele Freiräume in der Stadtmitte schon verschwunden waren, begann die Stadtgesellschaft sich intensiver mit der Frage der Stadtentwicklung zu beschäftigen. Einen Startschuss für Proteste gegen die Privatisierung der Räume an der Spree war die Gründung der „Media Spree“ 2002. „Media Spree“ war eine Vereinigung von großen Investoren. Sie verfolgten das Ziel, in privat-öffentlicher Kooperation Medienfirmen an der Spree zwischen Elsenbrücke und Jannowitzbrücke anzusiedeln. Dagegen protestierte eine lautstarke zivilgesellschaftliche Opposition. Initiativen wie „Mediaspree versenken“ demonstrierten kreativ und öffentlichkeitswirksam für den Erhalt des öffentlichen Raums.

Demonstration auf der Spree gegen die Bebauung des Spreeufers, 2008
Demonstration auf der Spree gegen die Bebauung des Spreeufers, 2008
Graffiti 2015, in Berlin-Friedrichshain
Graffiti 2015, in Berlin-Friedrichshain

„Das ist kein Ort, an dem Touristen gerne sind. An dem Ort sind keine Berliner. Das sind keine Wohnungen. Das ist eigentlich tote Schlafstadt, oder wie sagt man dazu? Tote Bürostadt.“

Sebastian Eberhard über die Bebauung entlang des Spreeufers, 2021

Dennoch konnte der amerikanische Investor Anschutz noch ohne großes öffentliches Aufsehen handeln. Die Anschutz Entertainment Group kaufte das Areal an der Mühlenstraße zwischen Ostbahnhof und Warschauer Straße und errichtete eine Eventarena. 2006 baute Anschutz eine Bootsanlegestelle für die Arena und entnahm dafür das Kunstwerk „Masken“ aus der East Side Gallery. Es wurde neben der Anlegestelle aufgestellt. Im Jahr 2013 wiederholte sich das Geschehen: Für das Wohnhaus „Living Levels“ entnahm der Investor Maik Uwe Hinkel das Kunstwerk „Himlen over Berlin“ für seine Zufahrt. Dieses Mal demonstrierten Tausende gegen die Baumaßnahmen und die Zerstörung der Galerie. Mehr als 30.000 Menschen unterschrieben die Petition „East Side Gallery retten“.

Demonstration für den kompletten Erhalt der East Side Gallery 2013
Demonstration für den kompletten Erhalt der East Side Gallery 2013
Auf Bannern, Plakaten und sogar Regenschirmen wird auf den Denkmalstatus der East Side Gallery hingewiesen, 2013
Auf Bannern, Plakaten und sogar Regenschirmen wird auf den Denkmalstatus der East Side Gallery hingewiesen, 2013
Trotz der Proteste wurde direkt hinter der ehemaligen Berliner Mauer ein Hochhaus gebaut, 2018
Trotz der Proteste wurde direkt hinter der ehemaligen Berliner Mauer ein Hochhaus gebaut, 2018

Teilerfolge des zivilgesellschaftlichen Protests

Die Proteste erreichten Teilerfolge: Es wurden weniger Mauerteile versetzt als es die Planungen vorsahen. Ein öffentlicher Uferweg entlang der Spree wurde zugesichert. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hatte Erfolg bei einem Projekt: Er verhinderte, dass zehn geplante Stadthäuser entlang der Spree gebaut wurden. Nach der Umwidmung von Bauland in Grünfläche richtete er einen öffentlichen Park ein, auch finanziert als Ausgleichsfläche durch Anschutz. Ein Teil des Spreeraums konnte so für alle frei zugänglich bleiben.

Demonstration gegen die Eröffnung der Eventarena der Anschutz Entertainment Group, 2008
Demonstration gegen die Eröffnung der Eventarena der Anschutz Entertainment Group, 2008

Rückblick: Städtebauliche Planungen seit 1992

Die Bebauung konnte im Jahr 2013 nicht mehr gestoppt werden. Das lag auch daran, dass die Entscheidung für die Bebauung an der Spree schon viel früher gefallen war. Ende 1992 hatte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen einen städtebaulichen Ideenwettbewerb ausgerufen, der auch die Grundstücke an der Mühlenstraße betraf. Ziel war es, das Gebiet um den Hauptbahnhof (heute Ostbahnhof) und an der Mühlenstraße zu entwickeln und den städtebaulichen Zusammenhang wiederherzustellen, der durch die Berliner Mauer zerstört worden war. Der daraus hervorgegangene „Rahmenplan Hauptbahnhof/Spreeufer“ legte die Grundlage für die Bebauung des Spreeufers, wie sie heute zu sehen ist. Erst in den 2000er Jahren offenbarten sich der Öffentlichkeit die Konsequenzen der Baugenehmigungen.

Kikue Miyatakes Bild „Paradise out of the Darkness“ war 1998 das erste, das in den früheren Grenzstreifen hineinversetzt wurde. So entstand eine Zufahrt zum früheren Getreidespeicher, in dem sich Mitte der 1990er Jahre eine Diskothek befand
Kikue Miyatakes Bild „Paradise out of the Darkness“ war 1998 das erste, das in den früheren Grenzstreifen hineinversetzt wurde. So entstand eine Zufahrt zum früheren Getreidespeicher, in dem sich Mitte der 1990er Jahre eine Diskothek befand

Ich fand das schon so ein bisschen übergriffig und auch vielleicht ein bisschen dreist, weil die East Side Gallery ist ja nun doch ein Ort, der auch international wahrgenommen wird.“

Karsten Wenzel über den Teilabriss der East Side Gallery, 2021

Die Debatte im Jahr 2013 über das Versetzen von Mauerteilen brachte auch die Frage nach der Zukunft der East Side Gallery in die Öffentlichkeit. Sie war Anstoß für eine fünfjährige politische Auseinandersetzung und endete mit der Entscheidung des Landes Berlin, die Galerie langfristig zu erhalten. Es sollten keine weiteren Kunstwerke aus dem Denkmal entnommen werden. Mit der Übertragung der East Side Gallery an die Stiftung Berliner Mauer im November 2018 beauftragte es die Stiftung damit, das Denkmal zu erhalten und mit historisch-politischer Bildungsarbeit die Identität der East Side Gallery zu stärken.

Die Herausnahme von Wjatscheslaw Schljachows Bild „Die Masken“ war die größte Umsetzungsaktion. Sie verlief dennoch ohne öffentlichen Protest aus der Zivilgesellschaft. Die Anschutz Entertainment Group ließ die 40 Mauerteile 2006 für ihre Bootsanlegestelle in den Park versetzen
Die Herausnahme von Wjatscheslaw Schljachows Bild „Die Masken“ war die größte Umsetzungsaktion. Sie verlief dennoch ohne öffentlichen Protest aus der Zivilgesellschaft. Die Anschutz Entertainment Group ließ die 40 Mauerteile 2006 für ihre Bootsanlegestelle in den Park versetzen
Das Bild von Karina Bjerregaard und Lotte Haubart „Himlen over Berlin“ musste für eine Zufahrt des Wohnhochhauses „Living Levels“ weichen. Gegen die Entnahme gab es im Jahr 2013 laute Proteste, Demonstrationen und Bürgerinitiativen
Das Bild von Karina Bjerregaard und Lotte Haubart „Himlen over Berlin“ musste für eine Zufahrt des Wohnhochhauses „Living Levels“ weichen. Gegen die Entnahme gab es im Jahr 2013 laute Proteste, Demonstrationen und Bürgerinitiativen

Wjatscheslaw Schljachow: „Die Masken“ Karina Bjerregaard: „Himlen over Berlin“

„Zeichen in der Reihe“ von Mirta Domacinovic war bereits seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr als ein Kunstwerk erhalten. Es wurde das erste Mal im Zusammenhang mit der Räumung der Wagenburg 1996 bewegt. Weitere Segmente ließ die Firma Trockland für einen Zugang zu ihrem Hotel- und Wohnkomplex „Pier 61 I 64“ in den Park versetzen. Seit 2022 ist das Kunstwerk wieder zusammengefügt

Mirta Domacinovic: „Zeichen in der Reihe“

Zeitzeugen erinnern sich

Wem gehört die Stadt?
Gerold Kohl


Bürgerinitiative „Spreeufer für alle“
Carsten Joost

Wechselwirkungen zwischen Entertainmentquartier und East Side Gallery
Manfred Kühne

Bauprojekte trotz Denkmal
Manfred Kühne

Smarte Lösungen für die Stadtentwicklung
Manfred Kühne

1990er: Die Mauer soll weg
Manfred Kühne

Berlin der 1990er und heute
Jeanett Kipka

2000er: Die Mauer soll erhalten werden
Manfred Kühne

Nachbarschaft zum Denkmal: Bauen an der East Side Gallery
Heskel Nathaniel

Bürostadt oder lebendige Stadt
Erik Mahnkopf und Daniel Kensbock

Wem gehört die Stadt?
Heskel Nathaniel

Hätten die Projekte rückabgewickelt werden können?
Manfred Kühne

Wie hat Berlin sich seit der DDR entwickelt?
Christine Cyrus

Mauerfall und Verdrängung aus der Innenstadt
Gerold Kohl

Runde Tische zu den Wagenburgen
Gerold Kohl

Zukunft des Areals
Manfred Kühne

Trocklands Unternehmensphilosophie
Heskel Nathaniel

Öffentliche und private Akteure im Brachland
Manfred Kühne

Potential Spreeufer nach 1989
Manfred Kühne

Wie hat Berlin sich in den letzten dreißig Jahren entwickelt?
Sanem Kleff

"Ausverkauf der Stadt"
Ines Bayer und Raik Hönemann

„Vergangenheit in die Zukunft bringen“
Heskel Nathaniel

30 Jahre nach der Wiedervereinigung: wie hat Berlin sich verändert?
Dirk Moldt

Entertainment und Denkmal
Heike Püschel und Moritz Hillebrandt

2000er: Bauland an der Spree
Heike Püschel und Moritz Hillebrandt

Ein „zweiter Potsdamer Platz“ am Spreeufer
Manfred Kühne

Bauen an der East Side Gallery
Heike Püschel und Moritz Hillebrandt

Berlin: von der geteilten Stadt zur Weltmetropole
Heskel Nathaniel

Vom "verlorenen Ort" zum bebauten Ort
Carsten Joost

Besetzte Freiräume und Verdrängung
Gerold Kohl

Wem gehört die Stadt?
Ralf Marsault

Neues und altes Berlin
Erik Mahnkopf und Daniel Kensbock

Kleinstadt am Mercedes-Platz
Heike Püschel und Moritz Hillebrandt

Entertainmentquartier am Spreeufer: ein bizarres Experiment
Manfred Kühne

Was sagst Du zur Bebauung an der East Side Gallery?
Mirta Domacinovic

Das Bauprojekt Pier 61I64
Heskel Nathaniel

Abriss über die Köpfe der Künstler hinweg
Karsten Wenzel

Zeitgeist 1990er: Die Mauer muss weg
Heskel Nathaniel

Weiterführende Informationen:

Die East Side Gallery im Zustand von 1990, Die ersten Kunstwerke sind bereits zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=jOqyt1Y5tH8

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