Vertiefung

DebatteumdieGalerie

1990: Die Mauer soll weg

Nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 bestand ein breiter Konsens, das einstige Sperrelement aus dem Stadtbild verschwinden zu lassen. Im Frühsommer 1990 begann die DDR-Regierung mit dem vollständigen Abbau der 155 Kilometer langen Grenzanlage. Gleichzeitig war die Mauer über Nacht zu einem Symbol für die friedliche Überwindung der Diktatur geworden und entwickelte sich rasant zu einem Verkaufsschlager. Mauerspechte schlugen kleinere und größere Teile aus der Mauer, um sie als Souvenir zu verkaufen. Die DDR-Regierung stieg in das Geschäft ein und verkaufte Mauerteile, die von West-Berliner Künstlerinnen und Künstlern bemalt worden waren.

Wie hier in der Bernauer Straße begannen am 13. Juni die Grenztruppen der DDR mit dem Abbau der Berliner Mauer, die daraufhin fast überall aus dem Stadtbild verschwand
Wie hier in der Bernauer Straße begannen am 13. Juni die Grenztruppen der DDR mit dem Abbau der Berliner Mauer, die daraufhin fast überall aus dem Stadtbild verschwand

„Das ist eine öffentliche Angelegenheit, diese East Side Gallery. […] ich finde es auch nicht schlimm, wenn auf meinem Bild ein Tag ist, im Gegensatz zu einigen, die dann einen halben Herzinfarkt kriegen. Irgendwie gehört es zusammen“

Greta Csatlos, Interview mit Ralf Gründer 1997

Für die Berlinerinnen und Berliner und die politische Ebene lautete die Devise: „Die Mauer muss weg!“ Der Denkmalschutz sollte sich in Zurückhaltung üben. Die Künstlerinnen und Künstler an der East Side Gallery malten in der Annahme, dass die Galerie nur für kurze Zeit bestehen bleiben würde. Einige wie Stephan Cacciatore planten den Abriss der Mauer sogar in die Aussage ihres Bildes ein. Andere unterstützen die Idee der „Werbe- und Veranstaltungsagentur GmbH“ (Wuva), mit der Galerie auf Welttournee zu gehen und sie zu verkaufen. Die meisten Künstlerinnen und Künstler setzten sich dafür ein, dass die Galerie an ihrem Standort blieb, der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ging auf die Pläne der Wuva nicht ein. Die Monate der ungewissen Zukunft der Galerie endeten, als das Land Berlin die East Side Gallery bereits im November 1991 unter Denkmalschutz stellte.

Fortan waren es die Künstlerinnen und Künstler, die ihre Bilder bewahrten. Die Abgase der Straße, die Witterungseinflüsse und Beschmierungen machten es erforderlich, dass sie immer wieder an ihren Bildern arbeiteten. Ab 1996 gelang es der „Künstlerinitiative East Side Gallery e.V.“ finanzielle Mittel einzuwerben, um Teile der Galerie zu restaurieren. Touristinnen und Touristen aus der ganzen Welt strömten in die Mühlenstraße, um die Bilder auf der Mauer zu sehen.

„Bitte hinterlasst kein Graffiti auf den Bildern. Ich werde sehr traurig, wenn ich sehe, wie Menschen auf Kunst kritzeln, an der wir jahrelang gearbeitet haben. Es ist respektlos. Bitte macht das nicht“

Karina Bjerregaard, Interview 2021

2000: Die Mauer soll bewahrt werden

Anfang der 2000er Jahre veränderte sich die Haltung der Menschen in Berlin und der Politik. Inzwischen waren nur noch wenige Reste der Berliner Mauer im Stadtbild vorhanden. Gleichzeitig war Berlin Urlaubsziel für viele geworden, die auch wegen der Spuren der einstigen Sperranlage anreisten. Das Land Berlin und die Bundesregierung fassten den Entschluss, erhaltene Mauerteile langfristig zu bewahren. Mit der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße in Berlin-Mitte entstand ein Ort zur Erinnerung an die geteilte Stadt. Als nationales Denkmal gedenkt die Gedenkstätte der Todesopfer an der Berliner Mauer. Die East Side Gallery und andere frühere Mauerorte sollten zukünftig dezentral an die Vergangenheit erinnern. Die Identität der Galerie als Denkmal mit doppeltem Charakter wurde gestärkt: Einerseits als historisches Relikt der Berliner Mauer und der geteilten Stadt, andererseits als Zeitdokument des Mauerfalls und der einzigartigen Kunstaktion 1990. Heute sind noch an drei Orten in Berlin längere Abschnitte der Berliner Mauer zu sehen: An der Bernauer Straße, am Abgeordnetenhaus in der Niederkirchnerstraße und an der East Side Gallery.

Das berühmte Gemälde von Dmitri Vrubel war 1993 nur noch gerade so zu erkennen
Das berühmte Gemälde von Dmitri Vrubel war 1993 nur noch gerade so zu erkennen

„Sie ist das größte Friedensdenkmal der Welt.“

Gabriel Heimler über die East Side Gallery, 2021

Zahlreiche Aufschriften und Tags überdecken 1997 die Gemälde von Kikue Miyatake (links) und Günther Schaefer (rechts)
Zahlreiche Aufschriften und Tags überdecken 1997 die Gemälde von Kikue Miyatake (links) und Günther Schaefer (rechts)

„… da kamen ganz viele Jugendliche, also wirklich Heerscharen. Und die interessierten sich plötzlich alle, die blieben stehen und guckten und fragten. Da habe ich gesagt, das ist ja eigentlich doch ganz toll, das ist keine Galerie wo du Eintritt zahlen musst und dich mit irgendwelchen Historien beschäftigen musst, wo du ein Bild nicht verstehst, sondern – die können da langschlendern, ein Eis dabei lecken und befassen sich mit den Themen.“

Brigida Böttcher über die Bedeutung der East Side Gallery, 2021

2009: Sanierung der East Side Gallery

Die East Side Gallery war zu dieser Zeit in keinem guten Zustand, die Bilder verblassten zunehmend. Als das Land Berlin das 20. Jubiläum des Mauerfalls begehen wollte, nahm es das zusammen mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg und der Künstlerinitiative zum Anlass, die Galerie vollständig zu sanieren. Um das Mauerwerk reparieren zu können, wurden die Kunstwerke teilweise oder komplett durch Sandstrahlen entfernt. Die Künstlerinnen und Künstler waren eingeladen, ihre Bilder 20 Jahre später noch einmal auf die Berliner Mauer zu malen. So entstand eine neue East Side Gallery: Zu sehen sind heute nicht mehr die Originale von 1990, sondern die Kopien von 2009. Der Denkmalschutz hatte sich dazu entschieden, an der Galerie anders vorzugehen als beispielsweise in der Gedenkstätte Berliner Mauer. Nicht die originale Substanz verleiht der Galerie laut Landesdenkmalamt ihre Authentizität als historischer Ort, sondern ihr kultureller Wert. Die Galerie als Symbol der neu gewonnenen Freiheit von 1989 ist heute noch da und lockt jährlich mehr als vier Millionen Besucherinnen und Besucher an.

Dmitry Vrubel bringt 2009 sein Gemälde auf den sanierten, glatten und frisch gestrichenen Beton auf
Dmitry Vrubel bringt 2009 sein Gemälde auf den sanierten, glatten und frisch gestrichenen Beton auf
Neben dem berühmten Trabi-Gemälde, dass 2009 von Birgit Kinder neu gemalt wurde, findet sich das einzige Original von 1990: Das Bild „Hands“ von Margaret Hunter und Peter Russel, 2021
Neben dem berühmten Trabi-Gemälde, dass 2009 von Birgit Kinder neu gemalt wurde, findet sich das einzige Original von 1990: Das Bild „Hands“ von Margaret Hunter und Peter Russel, 2021

„Es wurde entschieden, die Kunst zu bewahren und nicht lebendig zu erhalten. Aber ich bin damit einverstanden, es ist schön, dass ein Werk von mir auf ewig erhalten wird“

Hervé Morlay über die Sanierung, 2021

Die East Side Gallery als „lebendiges Denkmal“?

Die Stiftung Berliner Mauer hat den Auftrag, die Galerie in ihrem Zustand seit 2009 zu bewahren. Dazu gehört, dass die Rückseite der Galerie weiß angestrichen sein soll. Graffitis von heute sind nicht erlaubt und sollen entfernt werden. Die Rückseite der Berliner Mauer war bis 1989 weiß gehalten, damit DDR-Grenzsoldaten Flüchtende besser erkennen konnten. Der weiße Anstrich soll laut Landesdenkmalamt an die Zeit der Teilung erinnern und den doppelten Charakter der East Side Gallery verdeutlichen. Nebensächlich erscheint der Umstand, dass die East Side Gallery seit 1990 ein wichtiger Ort für Vertreterinnen und Vertreter aus der Graffiti- und Style Writing-Szene war und die Rückseite ebenso wie die Vorderseite für Kunst genutzt wurde.

Die Rückseite der East Side Gallery ist immer noch ein Ort, an dem öffentlich gemacht wird, was Menschen bewegt – auch Kritik am Weißhalten der Rückseite
Die Rückseite der East Side Gallery ist immer noch ein Ort, an dem öffentlich gemacht wird, was Menschen bewegt – auch Kritik am Weißhalten der Rückseite
Die Rückseite der East Side Gallery wurde 2009 weiß gestrichen, um an die weiße Rückseite der Berliner Grenzmauer zu erinnern. Die Innenseite der Berliner Mauer war weiß gestrichen, damit die DDR-Grenzsoldaten Bewegungen von Menschen besser erkennen konnten
Die Rückseite der East Side Gallery wurde 2009 weiß gestrichen, um an die weiße Rückseite der Berliner Grenzmauer zu erinnern. Die Innenseite der Berliner Mauer war weiß gestrichen, damit die DDR-Grenzsoldaten Bewegungen von Menschen besser erkennen konnten

Seit der Sanierung 2009 gibt es eine Debatte über den Umgang mit der Kunst an der East Side Gallery. Für viele Künstlerinnen und Künstler ist Kunst im öffentlichen Raum nicht dafür geeignet, für die Ewigkeit bewahrt zu werden. Sie wünschen sich, ihre Bilder an die Gegenwart und an ihren entwickelten Kunststil anpassen zu können. Nicht nur viele Künstlerinnen und Künstler sehen die East Side Gallery als „lebendiges Denkmal“ und kritisieren die Musealierung ihrer Kunst. Die Galerie ist für viele Besucherinnen und Besucher, Sprayer und Writer ein Ort, sich auszudrücken und mit künstlerischen Kommentaren auf politische Ereignisse zu reagieren.

Zeitzeugen erinnern sich

2000er: Die Mauer soll erhalten werden
Manfred Kühne

East Side Gallery: mehr als Geschichte
C. F.

Warum die Mauer als Denkmal erhalten?
Jürgen Karwelat

„Die Künstlerinitiative hat viel erreicht!“
Brigida Böttcher

Hat die die East Side Gallery heute noch eine Relevanz?
Kiddy Citny

Die Freude darüber, dass sein Bild erhalten wird
Hervé Morlay

1990er: Die Mauer soll weg
Manfred Kühne

Zeitschichten der East Side Gallery
Brigida Böttcher

Neubemalung in 2013
Jim Avignon

Kunst für den Moment oder die Unvergänglichkeit?
Dmitry Vrubel

Über den Erhalt der ESG
Ines Bayer und Raik Hönemann

East Side Gallery: erst ignoriert, dann saniert
Jim Avignon

Zur East Side Gallery als Sehenswürdigkeit
Brigida Böttcher

Reaktionen auf die Neubemalung 2013
Jim Avignon

Weiterführende Informationen:

Die East Side Gallery im Zustand von 1990, Die ersten Kunstwerke sind bereits zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=jOqyt1Y5tH8

Podcastfolge zum Umgamg mit den Überresten der Berliner Mauer: Die Podcast-Reihe „Grenzerfahrung“ von der Stiftung Berliner Mauer entstand 2021 anlässlich des 60. Jahrestags des Mauerbaus und wurde gefördert von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Die Folge „Teilung – Einheit – Mauerspuren“ fragt nach dem Umgang mit den historischen Spuren der Teilung in Berlin. Expertinnen und Experten diskutieren über die Bedeutung der Spuren als Erinnerungs- und Bildungsorte, u.a. geht es um den Erhalt der East Side Gallery aus der Sicht der Stiftung Berliner Mauer und des Künstlers Günther Schaefer. In dieser Folge geht es außerdem um die Auswirkungen des Mauerfalls und des Vereinigungsprozesses auf Menschen, die als nicht Deutsch gelesen wurden. https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/stiftung/podcast-grenzerfahrung

Themenübersicht