Vertiefung

BeiderFluchtgestorben

Todesopfer im Grenzbereich an der Mühlenstraße

Die Berliner Mauer sollte verhindern, dass Menschen die DDR verließen. Viele nahmen dennoch das hohe Risiko einer Flucht in Kauf. Mehr als 2,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger entkamen zwischen 1961 und 1989 auf diesem Weg der SED-Diktatur. Mindestens 101 Menschen schafften es nicht nach West-Berlin, sie kamen bei ihrem Fluchtversuch ums Leben.

Tatortfoto der DDR-Grenztruppen von Anton Walzers Fluchtweg in der Spree nahe der Oberbaumbrücke, 8. Oktober 1962
Tatortfoto der DDR-Grenztruppen von Anton Walzers Fluchtweg in der Spree nahe der Oberbaumbrücke, 8. Oktober 1962

Im Bereich der Mühlenstraße starben zwischen 1961 und 1972 mindestens sieben Männer auf der Flucht. Sie gelangten an den Grenzfluss, weil ihnen die Häuser und Höfe Schutz boten und nachts kaum einsehbar waren. Immer wieder gelang es Flüchtlingen, unbemerkt in das Wasser zu steigen und das West-Berliner Ufer zu erreichen. Aber Anton Walzer, Werner Probst und Manfred Weylandt wurden von den DDR-Grenzsoldaten entdeckt, die mit Scheinwerfern das Wasser beleuchteten und von den Brücken, vom Land und Booten aus den Grenzfluss bewachten. Sie schwammen bis kurz vor die rettende Kaimauer auf der Kreuzberger Seite der Spree, als sie von Schüssen der Grenzsoldaten tödlich getroffen wurden. Udo Düllick wich den Kugeln aus und starb vermutlich wegen Unterkühlung und Erschöpfung. Philipp Held und Hans-Joachim Zock starben ebenfalls durch Ertrinken, aber ihre Fluchtversuche wurden erst entdeckt, als die Leichen aus dem Wasser geborgen wurden. Die Identität eines weiteren Flüchtlings konnte nie geklärt werden: Er ertrank vor den Augen von West-Berliner Anwohnern, auch die DDR-Grenztruppen bemerkten ihn, aber sein Leichnam wurde nicht gefunden.

Gedenkveranstaltung für Udo Düllick am 9. Oktober 1961 am West-Berliner Ufer
Gedenkveranstaltung für Udo Düllick am 9. Oktober 1961 am West-Berliner Ufer

Im Zeitraum ab 1972 sind fast keine Fluchtversuche und Todesopfer entlang der Mühlenstraße bekannt. Bis 1977 waren dort die Häuser, Lagerhallen und Fabrikgebäude abgetragen worden. Die 3,6 Meter hohe „Grenzmauer 75“ machte es unmöglich, in den Grenzbereich und an das Ufer der Spree zu gelangen. Für die DDR-Grenztruppen zeigte sich das nun frei geräumte Areal gut einsehbar, sie leuchteten es aus und konnten Bewegungen auf der weißen Rückseite der Mauer schnell erkennen. Nur einem jungen Mann gelang 1978 die Flucht: Er sprang von einem Boot ins Wasser und schwamm zum West-Berliner Ufer.

Ein Boot der Grenztruppen in der Spree am Mühlenstraßenufer 1980
Ein Boot der Grenztruppen in der Spree am Mühlenstraßenufer 1980

Im Grenzbereich an der Mühlenstraße verloren auch Menschen ihr Leben, die nicht die Absicht hatten, nach West-Berlin zu fliehen. Rätsel gab Ulrich Krzemien auf. Er war 1962 durch den Teltowkanal nach West-Berlin gelangt. Drei Jahre später schwamm er durch die Spree auf das Ost-Berliner Ufer zu und ertrank kurz vor der Kaimauer. Ein DDR-Grenzsoldat reagierte zu spät, der Leichnam wurde viele Tage später geborgen. Der West-Berliner Heinz Müller stand auf einem Aussichtspodest an der Schillingbrücke, als er betrunken in die Grenzanlagen fiel und von einem Grenzposten angeschossen wurde. Er erlag seinen Verletzungen.

West-Berliner Kinder als Todesopfer der DDR

Am West-Berliner Ufer der Spree ertranken in der Zeit von 1972 bis 1974 vier Kinder. Cengaver Katrancı (8 Jahre), Siegfried Kroboth (5 Jahre), Giuseppe Savoca (6 Jahre) und Çetin Mert (5 Jahre) fielen beim Spielen im Uferbereich in das Wasser und konnten sich allein nicht aus dem Wasser retten.

Auch der sechsjährige Andreas Senk ertrank im Grenzgewässer. Sein Sturz am Morgen des 13. September 1966 in die Spree blieb vermutlich von den DDR-Grenzsoldaten unbemerkt.

Den Booten der DDR-Grenztruppen war es ohne ausdrücklichen Befehl untersagt, so nah ans West-Berliner Ufer zu fahren. West-Berliner Rettungskräfte konnten nicht eingreifen wegen der Gefahr, dass die Grenztruppen auf sie schießen könnten. Der West-Berliner Senat weigerte sich, einen Zaun aufzustellen, weil er befürchtete, damit die Grenze anzuerkennen. Erst im Oktober 1975 trafen West-Berliner Senat und DDR-Regierung Regelungen zur Rettung von West-Berliner Personen in Grenzgewässern. Dafür wurden Rettungssäulen an der Wassergrenze zwischen Ost- und West-Berlin installiert, an denen die DDR-Grenzposten über einen Unfall informiert werden konnten.

„Und dieser Konflikt, der sich dann abspielt. Sie haben alles, Sie könnten helfen, aber Sie dürfen nicht helfen, weil es politisch nicht gewollt ist.“


Klaus Abraham, West-Berliner Feuerwehrmann, über die Hilflosigkeit bei Rettungseinsätzen, 2021

Weiterführende Informationen:

Die Podcast-Reihe „Grenzerfahrung“ von der Stiftung Berliner Mauer entstand 2021 anlässlich des 60. Jahrestags des Mauerbaus und wurde gefördert von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. In der Folge „Alltag in Teilung“ wird darüber gesprochen, wie sich das Leben im geteilten Berlin entwickelt hat. Die hohe Betonmauer gehörte zum Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner Berlins. Aber nicht alle Menschen wollten die Grenzabriegelung hinnehmen, sie versuchten, aus der DDR zu fliehen. Expertinnen und Experten geben Auskunft über das Grenzregime der DDR und berichten von den mindestens 101 Menschen, die bei einem Fluchtversuch ums Leben kamen oder inhaftiert wurden. https://www.stiftung-berliner-mauer.de/de/stiftung/podcast-grenzerfahrung

Themenübersicht